MELLOWTONIN
Das Abenteuer Intimität
In „Mellowtonin“, einer Wortschöpfung von Johannes Enders, die als Titel über der zweiten CD dieses fantastischen Quartetts steht, schwingt Milde mit und die gedehnte Artikulation, mit der Billy Hart „mellow-D“ ausspricht. Auch Assoziationen an Melatonin scheinen auf, an das Hormon also, das den humanen Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Seine Produktion geschieht in Abhängigkeit vom Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit. Mediziner haben Probleme damit, es nach Norm und Routine anzuwenden.
Norm und Routine sind auch der Musik diese Quartets fremd,in größerer Vielfalt werden die Stimmungen gemischt, auf einer breiteren Palette der Tag- und Nachtseiten, um im Bild zu bleiben.
Auf der Achse New York–Weilheim–Graz–Leipzig hat Johannes Enders seinen Tenorton individualisiert. In diesem, seinem bis dato wohl besten Quartett kommt er imponierend zum Tragen, schwingt sich empor und verschränkt sich mit einem schlüssigen Bandkonzept.
Allenthalben schimmern diverse Herkünfte und Sozialisationen durch diese austarierten Klänge. Spurenelemente amerikanischer Ahnen von Stan Getz bis John Coltrane schimmern ebenso durch wie das besonders mit Jean Paul Brodbeck geteilte Faible für eine vielleicht gar nicht so selige Hippiezeit. Doch Enders klingt nicht wie die Kopie irgendwelcher Vorbilder. Er klingt wie ein Original in seiner inzwischen klassischen Phase.
In ihrer souveränen Unaufgeregtheit stemmt sich diese Musik gegen die Zeit und ihre Geister. Ihr elegantes Fließen ist ein probates Gegenmittel zu Zapping und Infotainment. Dann wird Musik zum Trost im chaotischen Höher-Schneller-Weiter. Dieser Bandkosmos ist ein Glücksfall. Billy Hart, der mit seiner enormen Erfahrung jeden Moment aufladen kann mit Unverbrauchtem, Milan Nicholic mit seiner zuverlässig geerdeten Präsenz und Jean Paul Brodbeck, der das Trio zum Orchester macht. Im Zentrum steht der Gruppenklang, der aus der unbedingten Präsenz der Beteiligten resultiert. Der mündet in ein tiefgründiges Abenteuer der Intimität, in dem das zutiefst Menschliche noch stets am besten aufgehoben und transzendiert ist.
Ulrich Steinmetzger